Kann VR und KI einen Beitrag zum Kinder- und Jugendschutz leisten?
Forschungsprojekt Aid4Children entwickelt und erprobt KI-basierte Trainings für Gef?hrdungseinsch?tzungen im Kinder- und Jugendschutz
Lesen Sie im Interview mit unseren drei Experten des Forschungsprojekts AId4Children (Hilfe für Kinder), Prof. Dr. Christof Radewagen, Prof. Dr. Jan-David Liebe und Prof. Dr. Julius Sch?ning, warum eine korrekte Gef?hrdungseinsch?tzung so wichtig aber gleichzeitig auch so schwierig ist, unter welchen Voraussetzungen KI und VR-Anwendungen Fachkr?fte tats?chlich besser auf den Ernstfall vorbereiten aber auch, welche Grenzen und Risiken die Technik birgt.
Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsvorhaben?
Prof. Dr. Jan-David Liebe: AId4Children tr?gt zur Auseinandersetzung mit Fragen der digitalen Gesellschaft, insbesondere zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz bei.
Prof. Dr. Christof Radewagen: Darüber hinaus st?rkt das Projekt die ?ffentliche Wahrnehmung des Themas Kindeswohlgef?hrdung - eine der zentralsten Herausforderungen unserer Zeit.
Das Kindeswohl ist gef?hrdet, sagen Sie. Wie viele Gef?hrdungseinsch?tzungen erfolgen denn j?hrlich und wie ist die Entwicklung?
Radewagen: Die Zahl der Gef?hrdungseinsch?tzungen für Kinder und Jugendliche stieg von 2013 bis 2022 um über 70 Prozent auf 203.000 F?lle.
Was ist so herausfordernd an einer Gef?hrdungseinsch?tzung?
Radewagen: Gef?hrdungseinsch?tzungen sind komplexe und hochsensible Verfahren, die von den Fachkr?ften der Kinder- und Jugendhilfe eine umfassende Analyse der Situation der Minderj?hrigen und der Erziehungsberechtigten sowie m?glicher Risikofaktoren erfordert. Hat das Kind ein H?matom, weil es sich verletzt hat oder ist es Folge von Gewalteinwirkung durch einen Erziehungsberechtigten? Wie stelle ich das fest, ohne die Beziehung zu den Betroffenen zu gef?hrden? Es geht nicht um die moralische Verurteilung der Eltern, sondern um den Schutz des Kindes.
Das klingt so, als br?uchte eine Fachkraft viel Wissen und Erfahrung?
Sch?ning: Ja. Deshalb entwickeln wir eine VR-basierte Anwendung, mit der schon Studierende aber auch Fachkr?fte wie in einem Flugsimulator unter sicheren Bedingungen üben k?nnen, solche schwierigen Situationen richtig zu erfassen und zu bewerten und Reaktionsm?glichkeiten ausprobieren k?nnen.
Wie kann man sich so einen virtuellen Raum vorstellen?
Prof. Dr. Julius Sch?ning: Der Proband “betritt“ eine Wohnung, die sich hinsichtlich Ausstattung und Personen variieren l?sst. Um niemanden zu überfordern, passen wir Szenarien entsprechend an, blenden Merkmale ein- oder aus, legen zum Beispiel fest, ob das Kind schreckhaft ist, oder hypersensibel, schwer atmet oder seinen Vater beobachtet. Es geht darum, die Gefahrensituation eines Kindes so realit?tsgetreu und so genau wie m?glich abzubilden.
Wieso kann eine Fachkraft besser lernen, wenn sie virtuell damit konfrontiert wird, als wenn sie beispielsweise einen Film zum Thema sieht?
Radewagen: Das macht einen riesigen Unterschied. Die Anwendung ist erheblich n?her an der Realit?t. Der Proband betritt ein Zimmer, sieht sich um, beobachtet die Familie, findet m?glicherweise Anzeichen, die auf h?usliche Gewalt oder andere Gef?hrdungen hinweisen und entscheidet, was als N?chstes passiert. So kann die Fachkraft in einem lebensecht wirkenden Setting ihre Entscheidungskompetenz trainieren.
Mit der Anwendung kann also bestenfalls Erfahrung aufgebaut werden, die normalerweise erst nach Jahren im Beruf und nach vielen Gef?hrdungseinsch?tzungen entwickelt wird?
Liebe: Genau, wir erforschen, welche Effekte das Lernen in diesen virtuellen Umgebungen wirklich hat. Beispielweise gehen wir der Frage nach, ob die Anwendung zum anvisierten Kompetenzaufbau führt. Aber auch die Frage, ob ein solches Training überhaupt akzeptiert wird, wollen wir kl?ren. Neben diesen prim?ren Fragestellungen verfolgen wir mit dem Projekt langfristig aber auch noch andere Ziele. So m?chten wir die virtuellen Umgebungen sp?ter auch dazu nutzen, Chancen und Risiken KI-gestützter Systeme zur Einsch?tzung des Gef?hrdungsrisikos zu erforschen. Hierfür bieten die virtuellen Szenarien sichere Laborbedingungen. Diese k?nnen wir nutzen, um gerade im Kontext sensibler Entscheidungen, wie eben die der Gef?hrdungseinsch?tzung, KI-Systeme ohne gro?es Risiko zu testen. Dabei denke ich an unterschiedliche Zielparameter, wie die der Genauigkeit, der Empfindlichkeit, der Usability und natürlich auch an die Erkl?rbarkeit der Systeme.
Wie finden Sie denn heraus, welche Effekte das System hat?
Liebe: Je nach Fragestellung nutzen wir unterschiedliche Studiendesigns. Was den Kompetenzaufbau und die oben genannten Parameter betrifft, führen wir eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) durch. Das hei?t, wir arbeiten mit einer Interventionsgruppe, die die Anwendung einsetzt und mit einer Kontrollgruppe, die dies nicht tut. Für andere Fragen nutzen wir Fokusgruppendesigns und natürlich auch klassische Umfragen bzw. Querschnittsstudien.
Und welche negativen Folgen k?nnte der Einsatz dieses KI-basierten Systems haben?
Liebe: Wenn wir über ein System zur Gef?hrdungseinsch?tzung sprechen, besteht das vermutlich gr??te Risiko in einer falsch positiven beziehungsweise in einer falsch negativen Einsch?tzung. Also, dass eine Kindeswohlgef?hrdung festgestellt und das Kind aus der Familie genommen wird, obwohl es nicht gef?hrdet ist, oder, im umgekehrten Fall, dass das Kind in der Familie verbleibt, obwohl es gef?hrdet ist. Wobei das Herausnehmen aus der Familie natürlich ein Extrembespiel ist. Ein weiteres Risiko w?re mangelndes Vertrauen, wenn das System zwar sehr gut funktioniert, Menschen ihm jedoch nicht zutrauen, richtige Entscheidungen zu trainieren oder sogar zu treffen. Aber nochmal, in AID4Children entwickeln wir erst einmal die Testumgebung, um diese Risiken einsch?tzen zu k?nnen.
Wie k?nnen diese Risiken minimiert oder vermieden werden?
Sch?ning: Indem wir die Anwendungen sehr sorgf?ltig aufbauen. Dafür braucht es die fachliche Expertise und einen hohen technischen Standard, damit virtuelle R?ume entstehen, die wirklich bis ins Detail realit?tsgetreuen Situationen entsprechen, wie sie der Fachkraft im Berufsleben begegnen. Wir verstehen die Simulation au?erdem als erg?nzendes Werkzeug, das flankiert sein muss von professioneller Betreuung und guter Intervention.
Arbeiten Sie mit der Praxis zusammen, um die Anwendung zu entwickeln und zu optimieren?
Radewagen: Wir stehen bundesweit mit rund zehn Jugend?mtern und freien Jugendhilfetr?gern im Kontakt, die mitarbeiten wollen. Sie werden uns dabei unterstützen, die Situationen so lebensnah und realistisch wie m?glich darzustellen und die Anwendung testen. Die Praxis kann mit dem Tool au?erdem ihre eigenen Fachkr?fte schulen und handlungssicherer machen.
Und wo liegen die Chancen virtueller Szenarien im Vergleich zu herk?mmlichen Trainingsmethoden, wie zum Beispiel Rollenspielen?
Sch?ning: Es gibt eine Reihe von Vorteilen. Zu nennen w?re die gute Skalierbarkeit solcher Szenarien. Das hei?t der Schwierigkeitsgrad kann jeweils auf den Probanden zugeschnitten werden und wir k?nnen sie mit überschaubarem Aufwand sehr variantenreich gestalten. Zudem ist die Technik ?rtlich und zeitlich flexibel, schneller und günstiger.
Liebe: Ihr Einsatz k?nnte für viele Berufe sehr hilfreich sein, in denen komplexe Situationen erfasst und schnell gehandelt werden muss, es aber oft Jahre dauert, bis das erforderliche Erfahrungswissen aufgebaut ist. Diesen Prozess k?nnen virtuelle Szenarien beschleunigen.
Zum Hintergrund
Das Projekt AID4Children profitiert von verschiedenen Vorleistungen. Hierzu z?hlt einerseits die 2018 entwickelte und etablierte ?Kindeswohlmatrix“ für die Gef?hrdungseinsch?tzung und der Lehrschwerpunkt ?Kindeswohlgef?hrdung“, im Studiengang Soziale Arbeit, der ein optimal zug?ngliches Testumfeld darstellt. Au?erdem stehen diverse Labore, wie das KI-Hochleistungscluster, Virtual-Reality-R?ume und Usability-Labore zur Verfügung. Es werden überdies drei Promotionsstellen zum Themenbereich KI geschaffen und dem Graduiertenkolleg der 188篮球比分_188比分直播—激情赢盈中√ Osnabrück angegliedert. Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren und wird durch die F?rderlinie zukunft.niedersachsen mit rund 500.000 Euro unterstützt.
Website des Forschungsprojekts: www.hs-osnabrueck.de/aid4children/
Kindeswohlmatrix: www.tim-osnabrueck.de/nachricht/arbeit-im-kinderschutz-vertrauen-schaffen-sicherheit-bieten
Von: Isabelle Diekmann