Vielfaltsdiskurse

Stand der Forschung

Stand der Forschung

Im Kontext der voranschreitenden Globalisierung erfahren Deutschland und viele andere europ?ische L?nder eine kontinuierliche Zunahme ethnischer und kultureller Vielfalt. Die internationale Forschung zeigt, dass kulturell heterogene Gesellschaften erfolgreicher sind, wenn es ihnen gelingt den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherzustellen und vorhandene Potenziale von Vielfalt zu nutzen, beispielsweise einen besseren Zugang zu und eine vertiefte Elaboration von Informationen (?erban et al., 2020). Dieser Gedanken einer gemeinsamen übergeordneten Identit?t ist auch in der europ?ischen Vision sowie rechtlichen Vorgaben eingebettet. Gleichzeitig steht Europa vor der Herausforderung, Wege zum effektiven Umgang mit Vorurteilen, Kompetenzdefiziten und Diskriminierung zu finden (Genkova & Riecken, 2020).

In Deutschland bestehen nach wie vor weitverbreitete Vorbehalte gegenüber Einwanderung und Ma?nahmen zur Verringerung von Benachteiligungen sowie zur Integration und Partizipation von Migrierten. In repr?sentativen Untersuchungen von Einstellungen zu Immigration ?u?erte ein Drittel der Befragten ohne Migrationshintergrund explizit fremdenfeindliche Ansichten und drückte eine ?Angst vor ?berfremdung“ aus (KONID Survey, 2019). ?hnliche Ergebnisse fanden die repr?sentative Leipziger Autoritarismus-Studie sowie das Panel Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Decker et al., 2022; Heitmeyer, 2010; Küpper & Zick, 2017). Die Verbreitung moderat bis stark fremdenfeindlicher und rassistischer Einstellungen spiegelt sich partiell in ?ffentlichen Diskursen zu Migration und Chancengleichheit wider. Zahlreiche Analysen belegen die Verbreitung und Sagbarkeit von kulturalistischen, problemzentrierten und defizitorientierten Konstruktionen von Migration in traditionellen und sozialen Medien. Akteursgruppen ?ffentlicher Debatten agieren dabei aus sehr unterschiedlichen Lebenswelten heraus, was eine gemeinsame Einordnung und Reflexion erschwert (Bauder, 2008; Butterwegge, 2009; Goebel, 2021; Goebel & Vischer, 2023).

Forschende im Themenfeld Migration stehen vor der Herausforderung, empirisch fundierte Beitr?ge in diesen emotionalen, unsachlichen und teils offen hostil geführten gesellschaftlichen Debatten zu leisten. Dabei sind sie einem unverh?ltnism??igen Ma? an Anfeindungen, Kritik und offenen Drohungen ausgesetzt (Treibel, 2018). Gleichzeitig stellt die Heterogenit?t der Zielgruppen von wissenschaftlichen Diskursbeitr?gen im Hinblick auf Wissen, Erfahrungen und Einstellung eine zentrale Schwierigkeit dar. Die ?ffentliche Debatte um das Thema Migration und Chancengleichheit kann als post-normale Herausforderung für die Wissenschaftskommunikation bezeichnet werden (vgl. Akin & Scheufele, 2017), weil die Kontextbedingungen komplex und für Zielgruppen schwer zu durchschauen sind. Aufgrund divergierender Lebenswelten verstehen selbst wohlwollende Personen die Bedeutung wissenschaftlicher Beitr?ge zum Thema Migration oft nicht (Schmid-Petri & Bürger, 2019). Die verschiedenen Positionen bergen dabei subjektiv hohe Risiken, beispielsweise die Angst vor "?berfremdung" gegenüber der systematischen Benachteiligung gesellschaftlicher Gruppen.

Die bisherige Forschung konnte zeigen, dass subjektiv empfundene, sozial geteilte Normen, bestehende Einstellungen der Akteursgruppen zu Interkulturalit?t und zur Wissenschaft, F?higkeiten (wissenschafts-methodische Bildung; Akin & Scheufele, 2017) sowie Auspr?gungen relevanter Motive und Werte (Fairness, Effizienz, Fortschritt vs. Konservierung; Nir, 2011; Identit?t und Status; Akin & Scheufele, 2017) Faktoren sind, welche die Interpretation wissenschaftlicher Diskursbeitr?ge beeinflussen. Um zu einem effizienteren und sensibleren Umgang mit Migration beizutragen, müssen Inhalt, Format und Frame von wissenschaftlichen Beitr?gen zu Migrationsdiskursen daher an die Lebenswelten sehr heterogener Zielgruppen angepasst werden.

Aktuell werden wissenschaftliche Beitr?ge zu Migrationsdiskursen jedoch weitestgehend nicht an die jeweiligen Rezipient*innen adaptiert (Goebel, 2021a). Beitr?ge, die aufkl?ren sollen, zum Beispiel Interviews oder Talkshow-Auftritte, beeinflussen meist nur diejenigen, die bereits eine positive Einstellung haben oder sich für das Thema interessieren. Andere wichtige Gruppen werden entweder nicht erreicht oder ihre Einstellungen ?ndern sich nicht, wenn die neuen Informationen im Widerspruch zu ihren bisherigen Ansichten stehen. In solchen F?llen k?nnen komplexe Fakten und unterschiedliche Sichtweisen dazu führen, dass Menschen ablehnend reagieren und ihre negativen Meinungen verst?rken, anstatt sie zu ?ndern (Genkova & Schreiber, 2022). Auch diskursive und partizipative Formate, die z. B. Perspektiven von Migrierten einbeziehen, reichen oft nicht aus, weil sie nicht genug an das Wissen und die Lebenserfahrungen der Zuschauenden angepasst werden.